Mit seinen 61 Jahren geht Lee Chang-dong als Veteran des südkoreanischen Kinos durch. Dabei lassen sich seine Regie-Arbeiten an einer Hand abzählen (Nein wirklich, testet es! Es sind fünf). Der ehemalige Lehrer Lee erlangte als Schriftsteller Bekanntheit, bevor ihn Drehbuch-Engagements in die Welt des Films führten. Heute wird Lee neben Park Chan-wook (Oldboy), Bong Joon-ho (The Host) und Kim Ji-woon (I Saw the Devil) häufig zur Neuen Welle des südkoreanischen Films gezählt, die das Land in den späten 1990ern erfasste. Sein 2010 veröffentlichtes und beim Festival Cannes ausgezeichnetes Drama Poetry zeigt derweil, wie flexibel bis hin zu nichtssagend solche aquatischen Schubladen sind.
Die 66-jährige Mi-ja (Yoon Jeong-hee) kommt mit ihrer Rente und einem Pfleger-Job geradeso über die Runden und muss sich um ihren ungehörigen Enkel Jong-wook (Lee Da-wit) kümmern. Nachdem ein Arzt sie wegen ihrer Vergesslichkeit an einen Spezialisten verweist, nimmt Mi-ja an einem Poesiekurs teil, an dessen Ende sie ein Gedicht schreiben soll. Doch Poetry ist kein rührseliges Traktat über die Schönheit herumfliegender Plastiktüten. Mi-ja sieht die Welt mit anderen Augen, aber mit jedem Sonnenstrahl drängt sich ein Schatten ins Bild. Wie in der ersten Szene des Films vorgegeben: Kinder spielen am Flussbett - der blaue Himmel über ihren Köpfen - und in der Ferne treibt eine Leiche im Wasser. Und diese hat mehr mit Mi-ja zu tun, als die Hobby-Dichterin ahnt.
Wie seine international wohl bekanntesten Filme Secret Sunshine und Oasis fällt Lees Poetry seltener durch stilistische Extravaganzen auf, als es bei seinen berühmten koreanischen Kollegen der Fall ist. Zum Vergleich sei beispielsweise der ein Jahr vorher entstandene Mother von Bong Joon-ho herangezogen, in dem eine gar nicht mal unähnliche Geschichte moralischer Krisen im Gewand eines Thrillers erzählt wird. Poetry baut in einer zurückhaltenden Inszenierung ganz auf die Hauptdarstellerin Yoon. Ein großer Star südkoreanischer Melodramen der 1960er und 1970er Jahre, kehrte sie für diesen Film aus dem Ruhestand zurück. Zum Vorteil des Dramas: "So entspannt ist der Rhythmus, dass man sich fragt, ob bestimmte Teile [des Films] funktionieren würden, gäbe es nicht Yoons berauschende, sorgfältige Darbietung." (TimeOut )
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Heute im TV: Poetry (2010)
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Wann: 23:35 Uhr
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Wo: arte